Umberto Campagnolo:
Iring Fetscher (uit: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2004, Nr. 68, S. 38)
Was wir sind, sind wir nicht durch Verträge
Umberto Campagnolos Konzept für einen Bundesstaat Europa
Umberto Campagnolo studierte, nachdem er eine Ausbildung als Buchhalter erhalten hatte, als Werkstudent an der Universität Padua Philosophie. Er promovierte 1931 mit einer Arbeit über "das Selbstbewusstsein" und lehrte dann bis 1933 an einem Gymnasium. Als in diesem Jahr von allen Lehrenden der Eintritt in die faschistische Partei verlangt wurde, verließ er den Schuldienst und ging nach Genf ins Exil.
Dort studierte er unter Hans Kelsen und Gugliemo Ferrero Politikwissenschaft und promovierte mit der französisch vorgelegten These "Nations et droit. Le développement du droit international entendu comme développement de l'Etat" (1938). Campagnolos Arbeit setzte sich entschieden mit der damals herrschenden Auffassung des internationalen Rechts auseinander und stellte sich damit auch in Gegensatz zu Hans Kelsen. Kelsen kritisiert zwar in ungewöhnlicher Ausführlichkeit die Arbeit seines italienischen Studenten, betonte aber abschließend, die These Campagnolos stelle "durch ihre gründliche philosophische Fundierung einen sehr beachtlichen Versuch dar, eine Reihe von fundamentalen Problemen der Rechtswissenschaft von einem originellen Standpunkt aus zu lösen. Dass diese Schrift weit über dem Niveau einer selbst vorzüglichen Doktor-These steht, ist beinahe überflüssig hinzuzufügen."
Campagnolos Arbeit ist unter dem Eindruck des Versagens des zeitgenössischen Völkerrechts und des Völkerbunds gegenüber den internationalen Konflikten der Zwischenkriegszeit entstanden. Weder das als Erfolg präsentierte Verbot des Angriffskrieges im Briand-Kellogg-Pakt noch das Prinzip der kollektiven Sicherheit und Abrüstungsabkommen waren imstande, bewaffnete Konflikte zu verhindern. Solange Staaten souverän sind, werden sie stets noch behaupten, sie führten Kriege, nur um sich zu verteidigen oder auch einem drohenden Angriff vorzubeugen. Kollektive Sicherheit aber ist nur dann erfolgreich, wenn sie zu einem Gleichgewicht der Kräfte führt.
Das ist aber kein neues Konzept, sondern nur die Variante eines alten. Außerdem sind Kräftegleichgewichte zwischen souveränen Staaten stets prekär, da jeder Staat sie zu seinen Gunsten zu ändern sucht. Nicht viel sinnvoller ist der Versuch, Frieden durch Abkommen über Abrüstung zu sichern. "Der Grad der Rüstungen war nie etwas anderes als eine Art Temperaturmesser für den Zustand internationaler Spannungen, und es wäre absurd zu glauben, man könne die Temperatur senken, indem man das Thermometer verstellt."
Das internationale Recht hat für Campagnolo nur insoweit Realität, als es als Bestandteil in nationales positives Recht aufgenommen worden ist. Es regelt dann die Beziehungen von Bürgern und Ausländern. "Internationale Beziehungen (zwischen souveränen Staaten) bringen eine Art von Konflikten mit sich, die nur mit Gewalt gelöst werden können. Ihr Ausgang wird nur durch das Kriterium der relativen Stärke der konfligierenden Mächte bestimmt. Über Konflikte zwischen Personen innerhalb eines Staates entscheidet dagegen eine mit Exekutivmacht ausgestattete rechtliche Institution. Über souveränen Staaten gibt es die nicht." Jedenfalls fehlte sie dem Völkerbund. Zwangsschlichtungen lassen sich Staaten bei geringfügigen Streitfällen gelegentlich gefallen, bei gewichtigen behalten sie sich stets noch die eigene Entscheidung vor.
Nach Kriegsbeginn kehrte Campagnolo in seine Heimat zurück, wo ihm Adriano und Massimo Olivetti in Ivrea eine vom Staat unabhängige intellektuelle Tätigkeit ermöglichten. Er baute eine umfangreiche Bibliothek für die Mitarbeiter des Unternehmens Olivetti auf und beteiligte sich am Projekt eines Verlags zusammen mit dem Philosophen Passerin d'Etrèves. Sobald die Möglichkeit dazu bestand, engagierte sich Campagnolo beim Aufbau eines neuen demokratischen Italien. Während dieser Zeit begann er aber vor allem über den Weg zu einem europäischen Bundesstaat nachzudenken. Er übersetzte unter anderem die "Federalist Papers" von Hamilton, Madison und Jay, die bis dahin auf italienisch nicht vorlagen. Ließ aber seine Arbeit liegen, um sich persönlich in der entstehenden Bewegung der "europäischen Föderalisten" zu engagieren. 1945 veröffentlichte er das Buch "Republica federale europea" in Mailand, im gleichen Jahr erschien in Bern die deutsche Übersetzung "Der Europäische Bundesstaat, die juristische Einigung Europas".
Konkrete Vorüberlegungen zu diesem Buch hatte Campagnolo schon 1943 entworfen - ein Entwurf, der erst jetzt aus seinem Nachlass von Mario G. Losano veröffentlicht worden ist. Der künftige europäische Bundesstaat sollte nicht - wie die Europäische Gemeinschaft - aus Verträgen zwischen Regierungsvertretern, sondern aus einem regelrechten Verfassungsprozess der Europäer hervorgehen. Einem Vorgang, den Campagnolo sich nicht scheut, "revolutionär" zu nennen. Vorbild für diesen Prozess könnte die Vereinigung der Neuengland-Kolonien und ihre Loslösung vom Mutterland sein. In anderer Hinsicht sollte aber eher der Schweizer Bundesstaat als Modell dienen, zumal in ihm die kulturelle Vielheit bewahrt bleibt, auf die auch das vereinte Europa nicht verzichten kann. Europa kann eine politische Einheit werden, weil es schon eine gemeinsame kulturelle Grundlage hat.
Die drei Säulen der politischen Gemeinschaft des Kontinents
Drei Säulen sind es, auf denen diese Einheit beruht: die Philosophie und der Geist der Wissenschaftlichkeit, den wir der griechischen Antike verdanken, das Erbe stabiler Rechtsinstitutionen, die das alte Rom verwirklicht hat, wodurch den Rechtsinstitutionen eine von mythischer Willkür unabhängige Basis verliehen wurde; und nicht zuletzt "die Festlegung des grenzenlosen Wertes der menschlichen Person, ihrer Freiheit und ihrer Verantwortlichkeit auch gegenüber Gesellschaft und Staat - die Europa der christlichen Botschaft verdankt". Campagnolo verweist damit auf das wesentliche säkulare Erbe des Christentums, verzichtet aber auf eine stärkere religiöse Charakterisierung des europäischen Bundesstaates; damit bleibt er in der Tradition des säkularen italienischen Nationalstaates.
Die Bildung eines europäischen Bundesstaates war nach Campagnolos Überzeugung sowohl dringend notwendig als auch möglich. Die Notwendigkeit ergab sich aus der Tatsache, daß die beiden sogenannten Weltkriege letztlich - jedenfalls ihrem Ursprung nach - europäische Kriege waren. Dabei klammert Campagnolo bewußt die ostasiatischen Kriege Japans gegen China, Korea sowie den pazifischen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan aus. Der Versuch, durch den Völkerbund und sich weiterentwickelndes Völkerrecht der Welt den Frieden zu bringen, war aber, wie Campagnolo während seines Aufenthalts in Genf aus nächster Nähe erfahren hatte, völlig gescheitert.
Nicht viel hilfreicher war nach Campagnolo die Unterscheidung zwischen gerechtem Verteidigungskrieg und ungerechtem Angriffskrieg, weil es für diese Differenzierung keine entsprechende Rechtsnorm gibt und ein Recht, das die Existenz des Krieges anerkennt, sich selbst aufheben würde. Der Anspruch, einem Staat das Recht zur Führung bestimmter Kriege zu erlauben und dies anderen Staaten zu verbieten, ist ein Widerspruch in sich selbst. Das Scheitern des Völkerbundes lag also nicht an dessen akzidentiellen Schwächen wie dem Fehlen der Vereinigten Staaten oder dem späten Beitritt der Verlierer des Ersten Weltkriegs, sondern am prinzipiellen Konstruktionsfehler des Systems. Wenn wirklich in Europa Frieden gestiftet werden sollte, dann mußten die europäischen Staaten ihre Selbständigkeit in einer vielfältigen Rechtseinheit aufgeben.
Neben der entscheidenden kulturellen Gemeinsamkeit der europäischen Völker, die ihrer individuellen Besonderheit keineswegs Abbruch tut, spielt also der Prozess der Bewusstwerdung des historischen Weges Europas eine wichtige Rolle für die Akzeptanz des Bundesstaates. Einmal sollte die Erinnerung an die beiden Weltkriege helfen, die Bereitschaft zur Aufgabe der partikularen Souveränitäten zu befördern, zum anderen kann die Erinnerung an das Scheitern einer Einigung unter hegemonialer Macht dazu beitragen, die Lösung in einer Föderation zu finden, die Vielheit in der Einheit möglich, ja die individuellen Kulturen überhaupt erst überlebensfähig macht. Durch seine Offenheit gegenüber kulturell-nationalen Besonderheiten könnte - so Campagnolos Hoffnung - der europäische Bundesstaat ein anregendes Vorbild für andere Erdteile sein.
Für die schrittweise unter Beteiligung der Bürger in ganz Europa zu entwickelnde Verfassung sollten "drei Einheiten als notwendig festgelegt werden: die Einheit der Streitkräfte, die Einheit der internationalen Politik und die Währungseinheit". Allein die Währungseinheit ist - jedenfalls bis jetzt und für einen Teil der Europäischen Union - verwirklicht worden.